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Internationale Bonhoeffer-Tage in Stettin am 16. und 17. Juni 2018

 

Mitglieder mit Begegbungstagung versammlung vom 23.-25.11. in der Versöhnungskirche in Travemünde

 

6. Studientag der AG für pommersche Kirchengeschichte:

„Pomerania non cantat?“ – Pommern singt nicht?

 

 

Exodus der Söhne Zions aus dem pommerschen Land

Am 18.3.2013 brachte die Glos Pomorza in Stolp eine 24 Seiten lange Sonderbeilage über die Juden in Pommern. Die meisten der Artikel behandeln die Zeit vor 1945 und das Wiedersehen der Nachkommen von damals mit den Heimatorten der Vorfahren. Im hier von Martin Lassahn übersetzten Artikel geht es um die Zeit nach 1945. Im Vorspann des Berichtes von Marcin Kaminski heißt es: „Theoretisch endete die Geschichte der Stolper Juden am 10. Juli 1942. Die Spuren der meisten verloren sich. Wo sind die Stolper Juden hingekommen? Am 9. Juli 1942 mussten sich alle Juden in der Sporthalle (FOTO) der Gemeindeschule einfinden. Dazu kamen die übrigen Juden des Kösliner Regierungsbezirkes. Uhren und Schmuck wurden ihnen abgenommen, nur das Handgepäck durften sie behalten. Frühmorgens am 10. Juni wurden sie in Güterwagen verladen. Unterwegs kamen in Küstrin noch Juden aus anderen Landesteilen Deutschlands dazu. Am 12. Juli erreichte der Transport Auschwitz. Niemand aus diesem Transport überlebte.

 

Nur drei Häuser in Stolp erinnern an sie: Das Gebäude des Raphael-Wolff-Stiftes, (FOTO).das Gemeindehaus in der Arnoldstraße (FOTO) und die Friedhofskapelle (FOTO). Bis 1987 gab es auf dem jüdischen Friedhof noch einige Grabsteine.Im Jahr darauf wurden sie entfernt und weggebracht, wahrscheinlich zur Verstärkung der Uferböschung der Stolpe. Damit könnte man eigentlich die Geschichte der Juden in Pommern abschließen, doch es gab und gibt noch weitere Spuren von ihnen.

 

Was war also mit ihnen nach dem Kriege? Einer der wichtigsten Punkte auf der jüdischen Landkarte Pommerns war STETTIN. Hier trafen sich die Söhne Zions, unter anderem auch die aus Stolp, und verstreuten sich in die Weiten Europas. In Stettin gab es eine jüdische Geschäftsstelle „Brych“ der Zionisten, die die Juden über die grüne Grenze schleusten. Die Wahl des Ortes war nicht zufällig. Die noch länger ungeregelte Grenzsituation und Kontakte zu Schmugglern boten hier bessere Chancen als anderswo. Zur Schleusung werden auch die Transporte der vertriebenen Deutschen genutzt: Polnische Juden bekamen die Papiere toter deutscher Juden. Man schätzt, dass bis September 1946 rund 80% , das heißt etwa 24.000 Juden, Pommern verlassen hatten. Die meisten von Ihnen gingen in das Münchener Umland, wo sie in UNRRA-Lagern auf ihre Ausreisemöglichkeit nach Palästina warteten.Das hinderte die Neusiedler in Hinterpommern nicht an einer Aufnahme lebhafter Geschäftsbeziehungen in Stolp, Lauenburg, Köslin und Stettin.Eine Deutsche, die in Stolp zurückgeblieben war und die in einem Lebensmittelladen gearbeitet hatte, erzählte, dass ihre polnischen Mitbewohner Juden waren und oben in der Wohnung mit den aus Russland gekommenen Juden handelten, die dann illegal, häufig mit einem russischen LKW, weiter über die Grenze geschickt wurden. Hierbei müssen sich auch Russen beteiligt haben. Bezahlt wurde mit Rubeln, Lederwaren und Schmuck. Fast jede Nacht hatten oben im Haus Juden geschlafen, auf Weiterfahrt hoffend.

 

Trotz ihres Willens zur Emigration wurden die Juden als fünftes Rad am Wagen betrachtet. Nach den Ansiedlungsplänen der Zentralbehörden sollte sich die jüdische Bevölkerung nicht konzentrieren, vor allen Dingen nicht in den Städten, doch gerade das wollten die Vertreter der Juden, nicht nur aus Sicherheitsgründen, sondern auch weil sie immer traditionell in den Städten gewohnt hatten. Die lokalen Behörden plädierten für Kleingruppen in Kleinstädten und boten aus Propagandazwecken Gutsbezirke und ganze Dörfer für die Ansiedlung an.

 

Die Ansiedlung der Juden in Pommern wurde von verschiedenen Vorstellungen beeinflusst., aber auch vom Zufall und vom Chaos. Die Großstadt STETTIN , die zugleich Endstation des polnischen Eisenbahnnetzes war, lag an der Grenze und wurde deswegen zum Sammelpunkt der Juden in Hinterpommern. Ansiedlungsversuche gab es in den Kreisen Stargard, Arnswalde und Stettin. In Ziegenort bei Stettin bemühte man sich 1946-48 eine jüdische Fischereigenossenschaft in Gang zu bringen. Die Register jüdischer Komitees aus den Jahren 1946-48 verzeichnen Schwerpunkte in Stolp (1946 113 Juden, 1947 nur noch 23 und 1948 noch 22 Juden). 1946 waren es in Köslin 42 Personen, 1947 sogar 56 Personen und 1948 noch 22 Juden. Der Stettiner Wojewode berichtete im März 1947 von 10.843 in der Stadt wohnenden Juden.

 

Anm. der Bearbeiterin:

Genau wie die deutsche Minderheit hatten die Juden bis in die Mitte der sechziger Jahre eigenen Schulen in Stettin, in denen jiddisch und hebräisch unterrichtet wurde. Sie wohnten meistens im nördlichen Stadtteil Zabelsdorf. Dort hatte auch ihre kulturelle Vereinigung ihren Sitz, die auch Konzerte veranstaltete. Einige der Juden waren Überlebende aus den deutschen Konzentrationslagern wie Stutthof bei Danzig, doch die Mehrzahl stammte aus dem Teil im östlichen Polen, der durch den Hitler-Stalin-Pakt an die Russen gefallen war, die die Juden in die sibirischen Arbeitslager deportierten. Das war ein hartes Leben, doch sie entgingen damit der systematischen Ausrottung in den Konzentrationslagern. Wieder eine andere Gruppe war nach Kriegsausbruch vor den Nazis in die Sowjet Union geflüchtet Nach Kriegsende durften sie wie die Polen aus dem Westen als „Repatrianten“ nach Polen zurückkehren.

R. Scheller

 

In den Kreisen Arnswalde gab es zu jener Zeit 207 Juden, in Stolp 100 Juden, in Köslin 30 Juden, in Stargard 41 Juden, in Swinemünde 32, in Greifenberg 12, dazu noch einzelne Juden in sechs weiteren Kreisen.

 

Die von der Partei 1968 entfesselte antisemitische Hetze ließ die Auswanderungstimmung erneut anwachsen. Bislang hatten zwar antisemitische Sprüche in der Bevölkerung kursiert, doch jetzt wurde der Antisemitismus bewusst von oben entfacht. Diese Emigrationswelle erfasste den größten Teil der Juden in Pommern, besonders unter den assimilierten Juden und den Akademikern. Nach den Daten des Innenministeriums gab es allein von 1968 bis August 1969 fast 1000 Anträge auf Ausreise nach Israel. Fast 30% der Antragsteller hatten eine höhere Schuldbildung und waren Angestellte von Hochschulen. Nach diesem Exodus befand sich das jüdische Leben in Auflösung: Organisationen gingen ein, Schulen mit jiddischer Sprache wurden geschlossen, die Ausreisen von 1968-70 dezimierten die jüdische Gemeinschaft. Diejenigen, die blieben, mussten sich assimilieren, nicht selten mussten sie ihre Herkunft verleugnen und ihren Namen ändern oder sich mit der Geheimpolizei (UB) einlassen.

 

Zum Schluss schildert Marcin Kaminski ausführlich die schillernde Biographie des Juden Boleslaw Sieradzki (geb. 1926). 1968 geriet er in Stolp in die Fänge der UB und wurde vor die Wahl gestellt: „Emigration oder Gefängnis“ . Der Journalist verrät nicht, was aus B. Sieradzki wurde, meint aber abschließend: „Es gibt weitere ähnliche Geschichten, doch die noch hier lebenden Nachbarn der Stolper Juden möchten nicht darüber sprechen.“

 

Ergänzung der Bearbeiterin:

Die deutschsprachige evangelische Gemeinde in Stolp hatte in den achtziger Jahren lange einen Organisten namens Zlotygorski mit einem voll tönenden Organ wie ein jüdischer Kantor. Die Neustettiner Gemeinde hatte damals über 50 Mitglieder, aber er übertönte alle. Einmal führte das zu einer Pressekampagne gegen die „deutschen Revanchisten“, die an der Kapelle einen Lautsprecher angebracht hätten, der bis in die Stadt zu hören war. Während die anderen Angriffe gegen „die“ Deutschen in Körlin mehrmals wiederholt wurden, hatte man in diesem Fall bald eingesehen, dass es niemals einen Lautsprecher gegeben hatte, allerdings hatte die Gemeinde in der sommerlichen Hitze Fenster und Tüten der Kapelle offengelassen. Seine auch schon längst gestorbene Ehefrau gehörte zur evangelischen Gemeinde.

 

Erst nach der Wende sind Juden aus der Ukraine nach Stolp gekommen; ich lernte eine Dame kennen, die eine Art jüdischen Kulturverein gegründet hatte, um Restitutionsansprüche bei der Stadt auf jüdisches Eigentum anmelden zu können. Darüber geriet es zum Streit mit der jüdischen Gemeinde in Danzig und in Warschau, ob sie denn überhaupt berechtigt sei, für die Juden zu sprechen. Sie war keine gläubige Jüdin und wusste wenig über jüdische Sitten. Kurze Zeit später heiratete sie nach Amerika. Heute ist auch von Kennern nicht zu ermitteln, wie viele Juden es in Stolp gibt. Die in den letzten Jahren angebrachten Tafeln gehen auf andere Initiativen zurück. Der Enkel des jüdischen Rabbiners Dr. Max Joseph, der mit einem Teil seiner Familie noch rechtzeitig nach Palästina auswandern konnte, war vor einigen Jahren zur Einweihung der Tafel am Zaun der ehemaligen Synagoge nach Stolp gekommen. Auf dem ehemaligen jüdischen Friedhof steht ziemlich isoliert ein Gedenkstein mit folgender Inschrift: „Zur Erinnerung an die Juden, deren Asche in dieser Erde ruht. Die Bürger und der Rat der Stadt Stolp, 1994“. 2012 wurden etliche Grabsteine innen in der Wand der ehemaligen jüdischen Leichenhalle aufgestellt. Draußen sieht man eine Tafel mit folgender polnischer Inschrift: „Dies war das Leichenhaus beim jüdischen Friedhof, erbaut in den Jahren 1907/08 vom Architekten E. Röser“. „Stiftung zum ewigen Gedenken - Gesellschaft für Denkmalschutz“. Diese Zitate stammen weitgehend aus Gerhard Salingers Dokumentation über die einstigen jüdischen Gemeinden in Pommern, hg. 2006, hier Seite 811 ff.

 

Als der alte jüdische Friedhof in Köslin in der Nähe des Mühlenbaches um 2004 wiedergeweiht wurde, auf dem ein geretteter Grabstein von David Baruch steht, der die wilden Zeiten im Mühlenbach überstanden hatte, war auch sein Großneffe Profesor Leslie Baruch Brent dabei. Am Elternhaus von Leslie Brent, der ein berühmter Immunologe geworden ist, gibt es in der Bahnhofstraße eine Gedenktafel. Die Teilnehmer der Feier waren sehr gemischt: teils waren es junge gebildete messianische Juden, die Samstag den Sabbat feiern und die dann am Sonntag zum Gottesdienst der neuapostolischen Kirche gehen. Die anderen Teilnehmer sahen wie Bauersfrauen aus der Ukraine mit Kopftüchern und langen Röcken aus. In Köslin gibt es eine Arbeitsgemeinschaft der Minderheiten, die gemeinsame kulturelle Veranstaltungen organisieren, doch die Juden wollten sich nicht daran beteiligen – auch heute treten sie nicht gern in der Öffentlichkeit auf.

 

Etwas mehr jüdisches Leben konnte sich in Stettin halten, wenigstens so lange wie Szloma Broza, gelernter Uhrmacher, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde, lebte. Um 2000 gab es dort etwa 140 Juden, die teils in Familien, teils als Einzelpersonen in Stettin lebten, zumeist waren es ältere Menschen. Er starb im Herbst 2000. Seine Frau gehörte zur evangelischen Gemeinde in Stettin. Er hatte in einer Wohnung zwei koschere Küchen eingerichtet, wo sich ältere alleinstehende Menschen das Mittagessen holen konnten. Außerdem gab es einen Andachtsraum mit einem Schrank für die Thorarollen. Dorthin kam auch zuweilen ein Rabbiner aus Warschau. Zunächst hatte die amerikanische Reisegruppe von Jane Pejsa in Eigenregie eine Tafel an die Mauer des Zaunes an der ehemaligen Synagoge angebracht, 1999 kam eine offizielle Gedenktafel, gestiftet von der jüdischen Gemeinde und dem deutschen Generalkonsulat, dazu und die amerikanische Tafel verschwand 2001, ohne das besonders nach ihr gesucht wurde. Das Synagogengrundstück wird von einer Rasenfläche bedeckt.

 

Auf dem großen Stettiner Friedhof beim dritten Eingang im zweiten Feld links hatte die Stadt der kulturellen jüdischen Vereinigung eine eigene Abteilung für die jüdischen Beisetzungen zur Verfügung gestellt. Dort wurden Juden bestattet, die in den letzten Jahrzehnten in Stettin gestorben sind. Die Inschriften sind schon recht assimiliert, die Grabstellen sind auch mit Blumen geschmückt, was nicht zur jüdischen Tradition gehört. Um 2000 gab es bereits um die 100 Grabstellen. Der einstige jüdische Friedhof lag an der Ecke Bethanien- und Treitschkestraße. Um 1970 gab es dort noch viele Grabsteine. Danach wurde das Areal in einen Park umgewandelt; es blieb eine Gedenktafel mit der Aufschrift „Hier war ein jüdischer Friedhof 1821-1962“. Er wurde also noch in der Nachkriegszeit genutzt. Um ihn gruppiert sind elf Grabsteine aus den Jahren 1871 bis 1925, deren Inschriften zum Teil noch entzifferbar sind. Fotos dazu bei Gerhard Salinger, „Die jüdischen Gemeinden in Pommern“, Seite 307-313.

 

Die Sonderausgabe der Glos Pomorza über die Juden in Pommern ist deswegen von besonderer Bedeutung für uns, weil die pommerschen Juden in den großen Darstellungen meistens vergessen werden: Für das jüdische Museum in Berlin gehört Pommern nicht mehr zu Deutschland; bei den Konferenzen in Warschau interessiert man sich für die polnischen Juden aus dem „Stedtele“, aber nicht für die pommerschen Juden, die ihnen zu assimiliert sind und die sie eher als Deutsche betrachten.

 

Rita Scheller