Überraschende Begegnung auf dem Frühjahrstreffen in Anklam 2015 - zwei recht parallele Biographien.

Es war das erste Mal, dass ich an diesem großen Treffen teilnahm, zu dem hauptsächlich die Bewohner der neuen Bundesländer kamen, aber auch etliche aus den alten wie ich. Bisher kannte ich nur die Pommerntage im Pommernzentrum Travemünde. Ich fand, dass die Veranstaltung in Anklam ihre ganz eigene, besondere Atmosphäre hatte, die sich durch eine warme und familiär wirkende Ausstrahlung auszeichnete, durch die ich mich sogleich ganz natürlich als Teil einer großen Gemeinschaft von Pommern fühlte. Dass man hier im „Volkshaus“ gemeinsam in einem einzigen, großen Raum versammelt war, machte wohl diese anheimelnde Wirkung aus.


Wenn ich mich im großen Versammlungsraum umblickte, beeindruckte mich, überall auf den runden Tischen die Schilder mit den Namen der verschiedenen Heimatorte zu sehen. Dieser Anblick zeigte mir sinnfällig, dass Pommern ganz unerschütterlich weiterlebt – immer noch, nach so vielen Jahrzehnten, seit wir es politisch verloren haben.


Als ich mich jetzt in Anklam wieder einmal im großen Versammlungsraum umschaute, fiel mein Blick zufällig auf eine entfernter sitzende ältere Dame, die ich von Begegnungen auf den Travemünder Pommerntagen her näher zu kennen meinte. Ich freute mich, sie hier wieder zu treffen, und ging spontan zu ihrem Tisch, an dem sie zusammen mit einer anderen älteren Dame saß, und begrüßte sie erfreut. Die Überraschung war groß, als die mir vermeintlich bekannte ältere Dame sogleich erklärte, sie sei aber nicht die Person, für die ich sie hielte! Wir stellten uns einander vor und machten aus der vermeintlichen Bekanntschaft eine echte indem wir uns spontan und ausführlich von unserem Herkommen und unserem Lebens erzählten.


Ich machte den Anfang und berichtete, dass ich aus Hinterpommern stammte, und weiter, auf welche Weise ich in den Westen gelangt und wie mein Werdegang seitdem verlaufen war – bis hin zu meiner jetzigen ehrenamtlichen Funktion als Vorstandsmitglied des Pommernkonvents.


Geboren wurde ich im Januar 1941 in Kallies (Kr. Dramburg). Meine Mutter ging mit uns drei Kindern am 28. Januar 1945, fünf Tage nach meinem vierten Geburtstag, auf die Flucht vor den nahenden Russen. In Stettin warteten wir bei hohen Minusgraden stundenlang auf dem offenen Bahnsteig, bis vielleicht irgendein Zug nach Westen führe. Der Zug, in dem wir schließlich mitkamen, bestand nur aus Viehwagons, in deren einem wir, eng zusammen gedrängt mit anderen Flüchtlingen, versuchen mussten, Platz zum Stehen oder Hinkauern zu finden. Unser nächster Wohnort wurde Plau (Mecklenburg) – ganz einfach deshalb, weil der Zug hier seine Endstation hatte.


In einem Mietshaus wurde uns von der Ortsverwaltung eine beengte Bleibe zugeteilt. Unsere Wirtsfamilie nahm sich, kurz bevor die Russen im Ort einmarschierten, zusammen mit ihrer kleinen Tochter, das Leben. Das Mädchen war meine Spielgefährtin gewesen. Als ich es erfuhr, war das ein lautloser Schock für mich – ohne dass ich schon hätte begreifen können, in welchem Zusammenhang dieses Geschehnis mit der Wirklichkeit stand, die mein bisher kurzes Leben ausmachte.


Ende 1945 gelang es meinem Vater glücklich, uns in Plau ausfindig zu machen, nachdem er aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden war. In Groß Born war seine Einheit noch, nur wenige Monate vor Ende des Krieges, vom OKW zur Feldabstellung nach Kroatien beordert worden. In der Nacht zum 28. Januar marschierten sie bei starker Kälte durch den tief verschneiten Pommernwall nach Plagow bei Tempelburg, um dort verladen zu werden. Er wusste nicht, dass an eben diesem Sonntagmorgen seine Frau mit den drei kleinen Kindern allein auf die Flucht gegangen war. Hätte er es gewusst, wäre er weniger in Sorge gewesen, ob ihnen noch die Flucht gelingen würde.


Es dauerte eine volle Woche, bis sich der Transportzug in Tempelburg in Bewegung setzte. In unendlich langsamer Fahrt kamen sie, über Falkenburg, Ruhnow und Stargard, trotz anfänglicher Zweifel, doch noch nach Stettin durch. Es wurde ihm schwer ums Herz, das alles zum letzten Mal als deutsch zu sehen, denn ihm war klar, dass dies Land nun verloren war. Über Pasewalk, Berlin, Dresden und Prag gelangten sie nach Kroatien. In Dresden stand ihr Zug volle 24 Stunden auf dem großen Güterbahnhof, mitten zwischen lauter Munitionszügen, nur einen Tag vor dem vernichtenden Terrorangriff. Auf der Fahrt nach Prag aus konnten sie später noch den verheerenden Feuersturm aus Dresden sehen.


In Gr. Born lernte er nicht nur Pastor Bahr kennen, der jahrelang Vorsitzender des Pommernkonvents werden sollte und der zum Tröster vieler Soldaten in Gr. Born geworden war. Dort traf er auch einen Kriegskameraden, der aus Lüdenscheid/Westfalen stammte. Dieser Kontakt führte dazu, dass Lüdenscheid unser nächster Wohnort wurde. Wie fast alle aus dem Osten vertriebenen Pastoren stand mein Vater zunächst vor dem Nichts. Es blieb ihm anfangs nur übrig, durch Vertretungsdienste in der örtlichen Kirchengemeinde, durch Religionsunterricht am Gymnasium und später durch einen Lehrauftrag an der Pädagogischen Akademie die Existenz für sich und seine Familie zu sichern – bis er 1950 einen Ruf als Pfarrer an die evangelische Studentengemeinde in Münster erhielt und dadurch, fünf Jahre nach der Vertreibung, schließlich neuen Grund fand. Wie die anderen heimatvertriebenen Pastoren kümmerte auch er sich um die Betreuung seiner nach der Vertreibung überall hin verstreuten Kallieser Gemeindeglieder.


Sein großer Wunsch, wieder Gemeindepfarrer zu werden, erfüllte sich 1954. Nach drei Monaten erkrankte er plötzlich schwer und starb im Alter von 49 Jahren. Er hinterließ eine Familie mit vier Kindern.


Die Zeitzeugin Annemarie Ritz

Annemarie Ritz berichtete danach, wie es ihr selber bei Kriegsende ergangen war.

Geboren wurde sie 1927 und war also inzwischen 88 Jahre alt – aber noch von sehr wacher Ausstrahlung. Ihren Ehemann Karl Ritz, Flugplatzleiter auf dem Anklamer Segelflugstützpunkt, verlor sie schon früh. Er kam am 30.05.1968 durch einen Flugunfall ums.


Wie aus ihren Aufzeichnungen hervorgeht, die sie mir zur weiteren Verwendung an die Hand gab, war sie auf dem Bauernhof ihres Großvaters in Trestin (Kirchspiel Falkenwalde/ Amtsbezirk Pölitz) aufgewachsen. Nach beschwerlichen wirtschaftlichen Verhältnissen in der Zwischenkriegszeit erlangte ihr Vater nach 1936 endlich eine bessere berufliche Position in einer Papierfabrik in Odermünde und sie selbst fand eine Anstellung als Stenotypistin bei dem großen Hydrierwerk in Pölitz. Dann jedoch brach der Krieg aus, und in der Folge erlebte sie mit ihren Angehörigen auch die ersten nächtlichen Luftangriffe der Alliierten. Schließlich standen die Russen an der Oder und Pölitz wurde beschossen. So hieß es nun, alles zu verlassen und auf die Flucht zu gehen. Erst zog Annemarie Ritz zusammen mit den Eltern wieder auf den Bauernhof des Großvaters. Aber auch hier konnten sie nicht lange bleiben, und so verschlug es sie schließlich nach Görke bei Anklam. Hier waren eines Tages die ersten russischen Stimmen zu hören.

Einen Tag zuvor, am 29.04.1945, war das einstmals so schöne Anklam noch durch deutsche Flugzeuge in großem Umfang zerstört worden, nachdem die Stadt schon seit Oktober 1943 von alliierten Bombenangriffen heimgesucht worden war wegen der dortigen Rüstungsproduktion für den Standardjäger Focke-Wulf. Die schwersten Zerstörungen erlitt die Stadt aber eigentlich durch diese deutsche Bombardierung aus Anlass der unmittelbar bevorstehenden Einnahme der Stadt durch die Russen.


Nun hatten Annemarie Ritz und ihre Eltern noch härtere Bedingungen zu ertragen. Nach der Plünderung durch die Russen besaßen sie nichts mehr. Es geschah dann eines Tages, dass russische Soldaten auf die 17-jährige Annemarie aufmerksam wurden. Sie ergriffen sie und brachten sie in ein Haus. In einen Raum wurde sie auf das Zeichen eines russischen Offiziers hin an einen reich gedeckten Tisch geführt. Sie weinte bitterlich. Sie sollte etwas essen, doch sie bekam keinen Bissen herunter. Der Russe näherte sich ihr und versuchte anscheinend, sie zu trösten, aber sie verstand seine Sprache nicht. Ihr ging nur Hitlers Wort durch den Kopf: „Ein deutsches Mädchen lässt sich nicht vergewaltigen!“ Sie trug ein Messer bei sich. Doch hätte sie, trotz allen Hasses, nicht wirklich einen Menschen hinterrücks verletzen können. Nachher streichelte er sie und schien sie um Verzeihung bitten zu wollen. Sie erkannte, dass er ein höherer Offizier war. Er sorgte immerhin dafür, dass sie später in Ruhe gelassen wurde, so dass sie vor noch Schlimmerem bewahrt blieb.


Nicht lange danach wurde die Familie zum Bauernhof des Großvaters zurückgetrieben. Sie kamen jetzt nur noch zu Fuß weiter, weil die Polen ihnen die Pferde ausgespannt hatten. In Trestin musste sie sich wieder wochenlang verstecken. Mit Erleichterung stellte sie fest, dass sie nicht schwanger geworden war. In anderen Fällen hatten Mädchen oder Frauen oft das ungewollte Kind ertränkt oder ausgesetzt.


Diese Einzelheiten gehen aus ihren Aufzeichnungen über ihre Erlebnisse bei Kriegsende in Pommern hervor. Es war für sie besonders schlimm, weil es ein Tabu zu DDR Zeiten war, etwas Böses über die Russen zu sagen. Sie erklärte weiter, es gäbe ja nur noch wenige Zeitzeugen aus jenen von ihr durchlebten Jahren, und deshalb bedeutete es ihr viel, dass auch die Nachwachsenden von solchen Schicksalen erführen, um zu begreifen, wie unverdient schwer und grausam das Leben damals so oft war. Sie lehnt es ab, das schlimme Erleben, das sie damals durch die Sieger zu erdulden hatte, aus falscher Scham zu verdrängen, denn gerade auch solche Schicksale dürften nicht verschwiegen werden. Doch sei es ihr auch noch heute nicht möglich, zu verzeihen, was ihr damals angetan worden war.


Ich schlug ihr vor, den Bericht über ihre Erfahrungen aus jener schweren Zeit mit dem über mein eigenes Ergehen bei Kriegsende und danach zu verbinden und so ihren Aufzeichnungen, die sie vor einigen Jahren schon einmal im „Anklamer Boten“ hatte veröffentlichen lassen, einen neuen Rahmen zu geben. Diese Idee gefiel ihr, nachdem ihre damaligen Erlebnisse in der Erinnerung neu in ihr belebt worden waren. Unsere gegenseitige Anteilnahme am damals jeweils Erlebten machte es ihr leichter, alles noch einmal zu durchleben und dadurch etwas erträglicher damit umzugehen.


Ich hatte ihr anfangs schon kurz mitgeteilt gehabt, dass Ueckermünde ja nicht weit von Anklam entfernt sei und ich gerne einmal den Ort sehen würde, wo meine Urgroßmutter gestorben war, nachdem sie, als schon 89-Jährige, mit dem letzten Transport noch aus Kolberg hatte flüchten können. Auf dem Fluchtweg aus der von den Russen beschossenen Heimatstadt wurde sie von einem Granatsplitter getroffen. Kurz nach der Ankunft im rettenden Ueckermünde starb sie an dieser Verletzung. In einem Massengrab wurde sie dort beigesetzt. Ihre Tochter, meine Großmutter, die zusammen mit ihr auf die Flucht gegangen war, schlug sich danach ganz allein nach Plau durch, wo sie am 18. März 1945 bei uns anlangte. Von ihrer Mutter war sie bereits unterwegs getrennt worden. Ohne Gepäck kam sie bei uns an, krank und mit einer Kopfwunde.

Mein Vater, der noch bis zum letzten Kriegstag in Kroatien eingesetzt war, erfuhr brieflich durch sie, während sie noch in Kolberg lebte, dass seiner Familie die Flucht nach Plau gelungen war. Ende Oktober 1945, nach seiner Entlassung aus der Gefangenschaft, gelang es ihm, sich aus Bayern bis nach Plau in der sowjetischen Besatzungszone durchzuschlagen und bald danach seine Familie nach Westfalen zu führen.


70 Jahre sind seither vergangen. Durch den Austausch so lange zurückliegender Erlebnisse entstand hier neu diese besondere Empfindung, dass die Vergangenheit kurzzeitig neu Gegenwart wurde und dass die so lange Zeitspanne dazwischen vorübergehend ausgeblendet war – als sei ein verhüllender Vorhang zur Seite geschoben worden und die Vergangenheit noch einmal zurückgekehrt – nun aber gebannt.

Helmut Köhler (Münster)